Schweigen, Denken, Reifen und Dienen – Die Luthergemeinde in Riga
Institution und Gemeinschaft
Die Luthergemeinde mit ihren mehr als 4000 aktiven Gemeindegliedern entwickelte und pflegt innerhalb der evangelisch-lutherische Kirche Lettlands eine vom kirchlichen Mainstream markant abweichende geistliche Kultur – sowohl theologisch als auch in Bezug auf diverse spirituelle Praktiken und eine dezidierte Offenheit gegenüber der Gesellschaft. Wir wollen dabei nicht nur eine eigenständige Institution bleiben, sondern unsere Werte und theologische Überzeugungen auch nach außen vermitteln , indem wir unsere geistlichen Erfahrungen weitergeben – nicht nur an die evangelisch-lutherische Kirche, sondern auch an die spirituell offenen Menschen in der ganzen Gesellschaft – und auf diese Weise offen und anziehend für jeden geistlich Suchenden sein. So lautet unser Motto und Leitbild: “Für Menschen auf dem Weg”.
Wir als Luthergemeinde definieren uns doppelt: Einerseits sind wir eine “normale” Ortsgemeinde, zu der eine bestimmte Anzahl von Menschen gehören und die alle klassischen Aufgaben und Aktivitäten einer Pfarrei übernimmt und anbietet. Anderenseits verstehen wir uns immer mehr bewusst als eine theologische und geistliche Gemeinschaft, zu welcher – dank unserer Aktivitäten im Web und in sozialen Netzwerken – viel mehr Menschen gehören als zu einer traditionellen Gemeinde vor Ort.
Ziele der Luthergemeinde
Eines unserer Ziele besteht darin, im lettischen Sprachraum eine Gestalt von Christentum zu entwickeln, das für post-moderne Menschen des 21. Jahrhunderts anziehend und signifikant sein könnte. Daher sind wir bemüht, lettisch sprechende Menschen in der ganzen Welt virtuell anzusprechen und zu “sammeln”. Es sind nicht wenige, die außerhalb Lettlands der lettischen evangelisch-lutherischen Kirche angehören. Dazu kommen viele Letten, die in den letzten zehn Jahren aufgrund wirtschaftlicher Faktoren ausgewandert sind. Zu ihnen gehören Menschen, die vielleicht nie oder nur sehr selten in die Lutherkirche kommen werden; aber dennoch empfinden sie unsere Gemeinde als ihre geistliche Heimat und werden von uns geistlich “versorgt”. Sie können alles abrufen, was die Luthergemeinde im Internet zur Verfügung stellt, und darüber hinaus virtuell mit den Pfarrern und anderen Mitarbeitern kommunizieren. Zu diesem Zweck werden alle unsere geistlichen Aktivitäten – Predigten, Vorträge, Seminare – gefilmt und thematisch aufbereitet auf unserer Website veröffentlicht.
Unser zweites Ziel ist es, Menschen bei ihrer geistlichen Entwicklung und Reifung zu unterstützen. Letztlich dient vieles unserer geistlichen Arbeit genau diesem Zweck: Die Arbeit mit christlicher Meditation und mit dem Enneagramm, die gemeinsame Auseinandersetzung mit Theologie und geistlicher Praxis, aber auch die Predigten im Rahmen unserer Gottesdienste, vor allem jedoch die freiwillige, ehrenamtliche Mitarbeit vieler Gemeindeglieder im Kinderkrankenhaus und in sozialen Betreuungseinrichtungen für Menschen mit geistigen Behinderungen und ältere Menschen – all das zielt auf menschliche Reifung und geistliches Wachstum.
Unser drittes Ziel ist es, Kirche insgesamt zu helfen zu einer spirituellen und menschlichen Ressource für die Gesellschaft zu werden. Eine besondere Herausforderung unserer Gemeinde ist es, ein sowohl geistliches als auch diakonisches “Labor” zu sein, wo auf einem innovativen, interdisziplinären, interkonfessionellen und interreligiösen Weg neue Ausdrucksformen des christlichen Glaubens gesucht und versucht werden. Man könnte sagen, dass die drei Säulen unserer kirchlichen Arbeit Kontemplation, geistliche Wachstum und Dienst an der Gesellschaft sind.
Meditation und Kontemplation: Wie es anfing
Meditation und Kontemplation haben im Zusammenhang mit geradezu dramatischen Ereignissen in unserer Gemeinde Einzug gehalten. Seit Herbst 2005 hat der damalige und langjährige erste Pfarrer unserer Gemeinde, Juris.Rubenis, einen anhaltenden Burnout durchlebt. Er fing während dieser Krise an, regelmäßig zu meditieren und gründete ein paar Jahren später in der Gemeinde eine kleine Interessengemeinschaft, die begann, einmal pro Woche zusammenzukommen. Ziemlich rasch ist diese Gemeinschaft zu einer Gruppe von 100 bis 150 Personen angewachsen. Etwa im Jahre 2008 begann Juris Rubenis in seinem kleinen Ferienhaus an der Ostsee, fernab der Zivilisation in einem verlassenen und einsamen Fischerdorf und umgeben von Wäldern, ein kleines Retreat- und Meditationszentrum aufzubauen. Parallel dazu hat er eine Ausbildung in der Lassalle-Kontemplationsschule in der Schweiz begonnen. Im November 2009 wurde das Meditationszentrum “Elijah-Haus” von Bischöfen verschiedener Konfessionen eingeweiht und begann, seine reguläre Arbeit aufzunehmen.
Elijah-Haus
Obwohl das Elijah-Haus keine offizielle juristische Verbindung zur Luthergemeinde hat (es wird von dem Verein “Elijah-Haus” getragen), wird es doch theologisch und geistlich immer noch als Teil der Gemeindearbeit empfunden. Das Elijah-Haus wurde mit der Absicht aufgebaut, Menschen, die sich spirituell entwickeln wollen, dabei zu unterstützen, inneren Halt und geistliche Kraft wiederzugewinnen und Probleme im Zusammenhang mit geistlichen Krisen oder seelischem Burnout zu bewältigen. Das Elijah-Haus fördert als erste derartige Einrichtung in Lettland das Erlernen kontemplativer Meditation und den Dialog zwischen verschiedenen religiösen Traditionen. Ziel des Elijah-Hauses ist die Aktualisierung der christlichen mystischen Tradition, deren Wurzeln bereits in der Lehre der ägyptischen Wüstenväter im 3. Und 4. Jahrhundert zu finden sind. Das Elija-Haus steht Ideen nah, wie sie in den Werken von Thomas Merton, Hugo Enomiya Lassalle, Bede Griffiths, William Johnston, Richard Rohr, Laurence Freeman, Pia Gyger und Niklaus Brantschen formuliert worden sind. Es arbeitet eng mit der Weltgemeinschaft für Christliche Meditation (WCCM) und mit der Lassalle-Kontemplationsschule Via Integralis zusammen, organisiert Seminare, Einkehrtage und Meditationszeiten (Retreats), die von lettischen und ausländischen Kontemplationslehrern geleitet werden. Es bietet ferner regelmäßig Drei- und Fünf-Tages-Programme für Schweige-Meditation an. Das Meditationshaus bitet 12 bis 15 Personen Platz. Im Rahmen der Programme finden neben der schweigenden Kontemplation Vorträge, praktischer Unterricht und individuelle Gespräche mit Lehrern der Kontemplation statt, und es wird die Möglichkeit angeboten, am Gottesdienst mit Heiligem Abendmahl teilzunehmen. Während des gesamten Programms müssen die Teilnehmer das Schweigen wahren. Das Haus trägt sich durch die Spenden der Programmteilnehmer.
Themen der Kontemplationstage waren zum Beispiel: Christliche Mystiker des 20. Jahrhunderts; die Trinität als Fokus der christlichen Mystik; das Enneagramm – die neun Gesichter der Seele; der inter-religiöse Weg der Erfahrung; Mann und Frau; Arbeit mit christlichen “Schlüsselwörtern”; das Problem des Bösen in der Welt und im Menschen; das Erleben von “Nacht” und “Entleerung”; Meditation und die transpersonalen Phänomene; die frühen ägyptischen und syrischen Wüstenväter; Liebe, Beziehungen und Sexualität; Herausforderungen, Aufgaben und Chancen des modernen Mannes und männliche Initiation; integrale Spiritualität; seelische Verletzungen und ihre Heilung; Schatten-Integration;.integrale Praxis; der Weg des Paradoxen bei Jesus (Nicht-Dualität); die Spiritualität der zweiten Lebenshälfte; Traditionen der christlichen Mystik; Leben und Visionen des Nikolaus von Flüe (Bruder Klaus) als Weg der christlichen Initiation; integrale Leitung; Spiritualität und Beruf; die Eigenschaften eines guten Leiters; Gesetze der Organisationsentwicklung; die integrale Entwicklung des Menschen nach Ken Wilber. Im Jahre 2012 fanden im Elijah-Haus 37 Retraiten statt. Insgesamt haben daran 516 Menschen teilgenommen.
Meditation in der Luthergemeinde: Meditationabende und Kontemplationtage
Am Montag Abend versammeln sich bei uns regelmäßig rund 150 Personen. Jeder dieser Abende ist einem bestimmten Thema des spirituellen Wachstums gewidmet und endet mit einer 20 Minuten langen Schweige-Meditation. Nach und nach fand die Meditation auch ihren Platz im regulären Gemeindeleben. So begannen unter anderem Meditationskurse für Kinder in der Sonntagsschule. Zur Zeit finden solche stille Zeiten zusätzlich samstags am Morgen und am Abend nach dem kontemplativen Samstagsgottesdienst statt.
Bei unseren Meditationsabenden wird die von John Main, dem Gründer der Weltgemeinschaft für Christliche Meditation, entwickelte Kontemplationspraxis geübt. Das Werk von John Main war der ursprüngliche Rahmen, in dem christliche Meditation im lettischen christlichen Umfeld besser bekannt wurde. John Mains Nachfolger, Pater Laurence Freeman, hat Lettland und vor allem auch die Luthergemeinde mehrmals besucht, Vorträge gehalten und kontemplative Exerzitien geleitet.
Bei den Meditationsabenden ist aber auch der Einfluss der von Niklaus Brantschen und Pia Gyger gegründeten Lassalle-Kontemplationsschule Via Integralis spürbar mit ihrem charakteristischen Akzent auf dem Dialog zwischen verschiedenen religiösen Traditionen (vor allem – Zen und christliche Kontemplation), da der ehemalige Pfarrer der Luthergemeinde Dr. Juris Rubenis das Via Integralis Zertifikat als Kontemplationslehrer eworben hat und zu einem Promotor dieses Ansatzes in Lettland geworden ist: Auch der jetzige Pfarrer, Indulis Paičs, eignet sich derzeit dieses Programm an.
Anfänger erhalten bei uns zunächst eine allgemeine Einführung in die Tradition des stillen Gebetes, wobei das Gebetswort oder Mantra als Werkzeug der Zentrierung dient. Dabei wird das von John Main bevorzugte Wort “Maranatha” empfohlen. Darüber hinaus nehmen an unseren Meditationsabenden auch Menschen teil, die ein anderes Gebetswort gewählt haben oder – der Traition von Via Integralis folgend – innere Achtsamkeit ohne Wort-Wiederholung praktizieren. Nach unserer Überzeugung ist die Mantra-Wiederholung nur ein Werkzeug, um sich dem „reinen“ Gebet /der Hesychia zu nähern. In der Stille gelangen alle Traditionen zur Erfahrung der Anwesenheit Gottes.
Nach dem Neubau unseres Gemeindezentrums im Jahre 2011 erhöhten sich die Möglichkeiten, Seminare, Einkehrtage und Meditationsabende in der Gemeinde anzubieten. Zuvor war die Kirche der einzige Raum gewesen, in dem sich mehr als 30 Menschen versammeln konnten. Mit dem Zentrum verfügt die Gemeinde jetzt über ein modernes Gebäude mit einem großen Saal für 250 bis 300 Menschen, der in drei kleinere voneinander getrennte Räume aufgeteilt werden kann, Dazu kommen weitere kleinere Räume für Gruppenarbeit. Es ist so zum Beispiel möglich, Kontemplationstage zu veranstalten, bei denen die Teilnehmer im Laufe eines Tages verschiedene Vorträge, Seminare und Schweige-Zeiten wahrnehmen können.
Wir können jetzt auf eine fünfjährige Erfahrung mit der christlichen Meditationsarbeit zurückblicken und dürfen behaupten, dass sie inzwischen voll in die Gemeindearbeit integriert ist. Die Meditationsabende sind zu einer Art “Vorraum” geworden und ziehen zahlreiche kirchenferne Menschen an. Hier fühlen sich auch solche Menschen in einem kirchlichen Kontext wohl, die nicht getauft und konfirmiert sind. Die Meditation öffnet für zahlreichende Suchend ein weites Tor für eine Vielzahl von Suchende. Zugleich stellt sie einen Teil unserer geistlichen Arbeit dar und birgt unendliche Chancen für die Entwicklung und das Wachstum einer großen Gemeinde und des gesamten Christentums in Lettland.
Freiwilligendienste: Kinderkrankenhaus, verwaiste Eltern und Engel
Im Jahre 2007 hatte in Lettland das Fund-Raising für die Einrichtung eines Elternhauses im Kinderkrankenhaus begonnen. Es sollte ein Ort sein, wo die Eltern der kranken Kinder während der Krankheit des Kindes nicht nur übernachten, sondern auch geistliche und psychologische Unterstützung und Betreuung erhalten könnten. Der Initiator der Spendebeschaffung-Kampagne – die größte lettische Tageszeitung – hatte sich mit der Bitte an unsere Gemeinde gewandt, nach dem Aufbau und der Einrichtung des Elternhauses die Betreuung der Eltern zu übernehmen.
Das Elternhaus wurde Ende 2010 fertig gestellt. Noch vor der Eröffnung im April 2011 wurde ein Auswahlprozess für Freiwillige in die Wege geleitet, der eine sehr große Resonanz seitens der Gemeindemitglieder fand. Bei keinem anderen Dienst in der Kirche ist es gelungen, in so kurzer Zeit eine so große Zahl von Freiwilligen zu sammeln. Zur Zeit arbeiten im Elternhaus etwa 110 Freiwillige mit – nicht nur Mitglieder der Gemeinde. Die Aufgabe der Gemeinde ist es, das Elternhaus mit Freiwilligen zu “versorgen”, wobei diese auch in vollkommen säkularen Umgebungen gesucht werden.
Inzwischen hat sich die ehrenamtliche Arbeit auch im übrigen Teil des Krankenhauses ausgeweitet. Eine Ausbildung für all jene Freiwilligen wurde organisiert, die bereit sind, nicht nur im Elternhaus, sondern auch auf den Intensiv- und Krebsstationen und anderswo zu sein. Man kann sagen, dass die freiwillige Arbeit im Elternhaus und in der Kinderklinik in den letzten Jahren zur größten und sichtbarsten Tätigkeit der Gemeinde in der Gesellschaft geworden ist. Wir legen Wert darauf, dass diese freiwillige Arbeit in keiner Weise mit einer direkten “Missionierung” verbunden ist. Wir sprechen vom nichtreligiösen Dienst, wo wir gemeinsam mit den Menschen in ihren Bedürfnissen und Schwierigkeiten während der Krankheit ihres Kindes einfach da sind. Eigentlich ist es die sogenannte “Umkehr-Mission”, von der Richard Rohr in seinem Buch “Adams Wiederkehr” spricht – eine Mission, bei der wir in uns selbst eine Veränderung erleben, und bei der wir von denjenigen verändert werden, denen wir Hilfe leisten wollten. Jeder Freiwillige im Krankenhaus muss bereit sein, dass die Begegnung mit dem Schmerz und dem Leiden anderer Menschen die eigene Weltanschauung, die eigenen Werte, Prioritäten und Glaubensansichten wandelt. Das Krankenhaus ist ein Ort, der zeigt, was wir sind und was wir nicht sind. Es lehrt uns, verletzlich und doch stark zu sein. Es kann für jeden Freiwilligen zu einem Ort werden, wo persönliche Entwicklung und Reifung stattfinden. So hat die freiwillige Arbeit im Krankenhaus letztlich das selbe Ziel wie die Kontemplation oder die Arbeit an der Selbsterkenntnis durch das Enneagramm.
Die zweite gesellschaftliche Aktivität ist mit der Unterstützung von Eltern totgeborener Kinder verbunden. Ende 2012 hat der Lettische Gesundheitspflegeverein zusammen mit der Luthergemeinde eine Website für Eltern erstellt, die den Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft erlebt haben, unabhängig davon, in welcher Schwangerschaftswoche das passiert ist. Kirchliche Initiativgruppen bereiten zur Zeit Gesetzesänderungen vor, die den Eltern das Recht geben würden, totgeborene Kinder bis zur 22. Schwangerschaftswoche zu beerdigen, sowie Sterbegeld und Urlaub zu bekommen. Parallel dazu hat der Rat der Luthergemeinde die Einrichtung eines speziellen “Seelengartens” an der Kirche genehmigt. Er soll als Gedenkstätte für totgeborenen Kinder dienen, einschließlich der Möglichkeit, dort ihre Asche beizusetzen.
Zum gesellschaftlichen Dienst der Luthergemeinde kann auch die Seelsorgearbeit in zwei Sozialzentren und am Internationalen Flughafen Riga gezählt werden, wo sich die Gemeinde um die Erhaltung der Flughafenkapelle kümmert. Außerdem existiert eine diakonische Arbeitsgruppe, die die Verteilung von Second-Hand-Kleidung und Lebensmittel für Obdachlose und bedürftige Menschen und viele weitere diakonische Aktivitäten umfasst. Nicht zu vergessen sei die von unserer Diakonie gegründete Kreativitätswerkstatt “Die kostbare Perle”. Dort werden aus kleinen Glasperlen Engel hergestellt, die den Eltern geschenkt werden, deren Kinder sich auf den Intensivstationen des Krankenhauses befinden. Diese Engelchen sind Zeichen der Hoffnung und der Liebe. Die Eltern kleben diese kleinen Engel zum Beispiel mit Pflaster auf der Innenseite von Inkubatoren; später tragen die Kinder die Engel weiterhin bei sich – als Zeichen der Anwesenheit Gottes auch nach ihrer Genesung. Diese Figuren sind zu einer nonverbalen Unterstützung und Ressource geistlicher Kraft für die Eltern geworden. Im Laufe der letzten Jahre haben wir Hunderte von diesen Engelchen ausgeteilt.
Pfarrer Linards Rozentāls